… Wenn man etwas können will, muss man es üben und praktizieren, ganz gleich, um was es geht. Die Kondition für einen Marathonlauf kommt nicht vom Reden darüber. Der perfekte Freistoß ist kein Zufallsergebnis. Eine Beethoven-Sonate spielt man erst nach vielen Klavierstunden. Wer gut lesen kann, kann dies deshalb, weil er viel gelesen, also viel geübt hat. Es wird wohl keinen geben, der bei den ersten drei Beispielen nicht zustimmen würde. Aber beim Lesen scheint dieser Zusammenhang nicht jedem klar zu sein. Aber auch Lesen lernt man nur durch Lesen (Renate Valtin).
Ist die Schule an dem Negativtrend schuld? Lesen hat man allerdings noch nie nur in der Schule gelernt. Und der Leselernprozess beginnt zudem schon vor der Schule. Zum Beispiel spielt der Wortschatz eine wichtige Rolle. Wörter, die man kennt, liest man leichter als unbekannte. Nicht ohne Grund wird über ein verpflichtendes Kindergartenjahr oder über die Klasse Null diskutiert. Es kommen viele Veränderungen in unserer Gesellschaft zusammen, die einen Einfluss auf die Entwicklung der Lesefertigkeit haben.
Richtig üben
Wenn ich Schüler zur Leseförderung übernehme, dann höre ich oft, dass viel geübt wurde, aber leider ohne Erfolg. Warum bleibt der Fortschritt aus? Vielleicht liegt es daran, wie geübt wird. Wenn ich zum Beispiel so lesen würde, wie ich schwimme, wäre das für mich eine Katastrophe. Als Kind hatte ich keinen Schwimmunterricht. Ich habe es mir selbst beigebracht. Ergebnis: Ich kann mich gut über Wasser halten, aber mein Schwimmstil ist nicht ökonomisch. Ich habe mir ungünstige Bewegungsabläufe angewöhnt, die ich nicht loswerde, was in diesem Fall nicht schlimm ist. Ich müsste, wenn Schwimmen für mich von Bedeutung wäre, das Schwimmen einfach mit einem Trainer neu erlernen.
Richtig zu üben, das ist am wichtigsten, auch beim Lesen. Das kostet Zeit. Viele Kinder bekommen die Zeit nicht, die sie bräuchten. Das ist der Anfang einer späteren Leseschwäche. In der Grundschule heißt es oft, man müsse abwarten, das wachse sich aus. Oder man bräuchte eine Diagnose, die erst später möglich sei. Aber es ist keine Diagnose erforderlich, um einem Kind im Leselernprozess zu helfen.
Viele Kinder merken, dass andere besser lesen können. Um es denen gleichzutun, fangen sie oft zu raten an. Das geht schneller, als Wörter mühsam zu entziffern. Hier müsste eingegriffen werden. Das Fundament, auf das später alles Lernen aufgebaut wird, ist noch nicht gefestigt. Intervenieren können Eltern und Schule. Je früher man eingreift, desto leichter ist es. Man kann das Kind anhalten, langsam und richtig zu lesen, denn langsam und richtig ist besser als schnell und falsch. Man muss dem Kind Mut zusprechen, wenn es gelingt, den Text genau zu erfassen. Man könnte Wörter, die falsch gelesen wurden, gezielt üben. Wenn die Lesesicherheit da ist, kommt die Geschwindigkeit mit der Übung. Das Kind muss erkennen, dass ihm verständnisvoll geholfen wird. Ungeduld und penible Kritik sind da fehl am Platz. Leider sind viele Eltern bei der Leseförderung überfordert.
Priorität 1 für das Lesen
In der Grundschule müsste die Lesefertigkeit aller Kinder die höchste Priorität haben. Zu dieser Erkenntnis ist auch die Wissenschaft gekommen. Im Februar 2019 besuchte ich ein Seminar des Landesverbandes Legasthenie und Dyskalkulie Bayern e.V. an der Ludwig-Maximilians-Universität München. In einem beeindruckenden Referat stellte PD Dr. Kristina Moll aktuelle Ergebnisse aus der neuropsychologischen Forschung vor.
In einem sechswöchigen Projekt hat man 55 schlecht lesende Erstklässler in zwei Gruppen geteilt. 29 Schüler erhielten dreimal wöchentlich 20 Minuten lang eine Förderung. Es wurden Buchstaben-Laut-Zuordnungen geübt, sowie Silben und einfache Wörter gelesen. Die anderen 26 Kinder trieben in der Zeit Sport. Während die Kontrollgruppe unverändert schwach blieb, hatte sich die Leseschwäche der 29 Kinder, die gezielt gefördert wurden, deutlich verringert.
Dieses Ergebnis war vorherzusehen. Nur unverbesserliche Optimisten haben vielleicht erwartet, dass diese wissenschaftlichen Erkenntnisse in den Kultusministerien aufgegriffen und umgesetzt werden. Eine solche Frühförderung in der Schule würde viele Leseprobleme gar nicht erst entstehen lassen. Inzwischen gibt es zaghafte Ansätze. Man hört von mehr verpflichtender Lesezeit in den Schulen. „3 mal 20 Minuten pro Woche“ werden von einigen Kultusministerien propagiert. Da fragt man sich, wie viel denn bisher gelesen wurde. Es dreht sich fast alles um Diagnostik, Nachteilsausgleich und Notenschutz. Das Bundesverfassungsgericht soll entscheiden, ob letzterer im Zeugnis vermerkt werden darf oder nicht. Dass man ganz am Anfang des Leselernprozesses mehr tun müsste, um hinterher viele Maßnahmen einsparen zu können, das kommt den Verantwortlichen gar nicht erst in den Sinn.
Individuell, auf dem richtigen Niveau fördern
Am wichtigsten für Eltern (und alle Leseförderer) ist es, zu schauen, wo es beim Lesen hakt. Unter Umständen muss man zurück auf Los. Auf keinem Fall sollte auf einem Niveau geübt werden, das für das Kind noch zu hoch ist. Man muss ihm Erfolgserlebnisse ermöglichen, die anspornen, weiterzumachen. Das erfordert Einfühlungsvermögen und Geduld. Ungeduld ist die Mutter des Misserfolgs! Bei der Leseförderung durch Eltern ist das manchmal das Hauptproblem. Dann ist eine Leseförderung außerhalb des familiären Umfelds angeraten.
Am Symptom üben
Lesen, lesen, lesen heißt die Devise. Nur durch viel lesen wird man ein guter Leser und produziert immer weniger Lesefehler, also Symptome, die auf einen Förderbedarf hinweisen. Wiederkehrende Stolperstellen kann man gezielt angehen. In meinem Leseförderungssystem gibt es den Ordner „Am Symptom üben“ mit vielen kostenlosen Dateien. Einige dieser Übungsfälle werde ich in weiteren Artikeln erläutern.