Das war das erste Fachbuch, das ich zum Thema Lesen, Legasthenie und LRS gelesen, ja verschlungen habe. Ein tolles Buch für alle, die sich in verständlicher Sprache und mit anschaulichen Beispielen über dieses spannende Thema informieren wollen:
Maryanne Wolf, Das lesende Gehirn - Wie der Mensch zum Lesen kam – und was es in unseren Köpfen bewirkt, Spektrum Akademischer Verlag Heidelberg 2009
Einige Zitate daraus:
Seite 5: Das Gehirn kann lesen lernen, weil es in der Lage ist, neue Verbindungen zwischen Strukturen und Schaltkreisen herzustellen, die ursprünglich für fundamentalere und evolutionär ältere Hirnprozesse, wie Sehen oder Sprechen, zuständig waren.
Seite 98: Die letzten Jahrzehne der Forschung haben gezeigt, dass das spätere Lesevermögen eines Kindes stark davon beeinflusst wird, wie oft und wie lange die Eltern und andere Bezugspersonen ihm vorlesen.
Am schönsten ist die Geschichte eines kleinen sympathischen Jungen, der Schwierigkeiten beim Lesenlernen hatte. Der wurde immer kleinlauter. Bis die Lehrerin nach Schulschluss sich mit ihm zusammen setzte und übte. Und irgendwann konnte er es. Diese Mühe lohnt immer.
Seite 142: Andrew Biemiller hat typische Fehler von Kindern in Timmys Alter untersucht und herausgefunden, dass junge Leseanfänger häufig drei kurze, gut vorhersagbare Phasen durchlaufen. Zuerst produzieren sie falsche Wörter, die semantisch und syntaktisch passen, aber keine phonologische oder orthographische Ähnlichkeit mit dem richtigen Wort aufweisen (Papa für Vater). Wenn sie erst einmal einige Graphem-Phonem-Korrespondenzregeln erlernt haben, weisen ihre falschen Wörter eine orthographische Ähnlichkeit mit dem richtigen Wort auf, passen aber semantisch nicht gut (Timmys horse statt house). Am Ende ihrer Zeit als Leseanfänger produzieren Kinder falsche Wörter, die sowohl orthographisch ähnlich sind als auch semantisch passen (Leine für Linie).
Seite 146: Versuchen Sie einmal, diese Begriffe laut zu lesen: Periventrikuläre moduläre Heterotopie, Psychiatrie, fiduziarisch, Mikrospektroskopie. Wie schnell sie die einzelnen Wörter lesen, hängt nicht nur von ihrem „Decodiervermögen“ ab, sondern auch von ihrem Hintergrundwissen.
Seite 155: Flüssiges Lesen ist keine Frage der Geschwindigkeit. Es geht vielmehr um die Fähigkeit des Kindes, sein gesamtes spezielles Wissen über ein Wort – seine Buchstaben, Buchstabenmuster, grammatischen Funktionen, Wurzeln und Endungen – so schnell zu nutzen, dass ihm noch Zeit zum Denken und Verstehen bleibt. Alle Kenntnisse über ein Wort tragen zu der Geschwindigkeit bei, mit der es gelesen werden kann.
Seite 160: Neuere Berichte des national Reading Panel und andere staatliche Statistiken weisen darauf hin, dass 30 bis 40 Prozent der Viertklässler in den USA nicht lernen, wirklich flüssig zu lesen und dabei den Text ausreichend zu verstehen. Das ist eine niederschmetternde Zahl. Noch schlimmer wird die Sache dadurch, dass Lehrer, Lehrbuchautoren, ja das gesamte Schulsystem von Schülern ab der vierten Klasse ganz andere Dinge erwarten. Diese Erwartung drückt sich in dem Mantra aus, dass ein Kind in den ersten Schuljahren „lesen lernt“, und in den darauf folgenden Schuljahren „liest, um zu lernen“. Nach der Versetzung in die vierte Klasse erwarten die Lehrer von den Kindern ausreichend automatisierte Lesefertigkeiten, um, auf der Basis zunehmend schwierigerer Teexte, immer mehr selbständig lernen zu können.
Seite 193: Ich würde lieber den Dreck um die Badewanne wegwischen als lesen. Kind mit Legasthenie
Seite 195: Was mich und meine Kollegen in der Legasthenieforschung frustriert, ist, dass dieser Kreislauf des Misserfolgs größtenteils vermeidbar wäre.
Wenn wir uns an die Erforschung der Legasthenie wagen, merken wir bald, dass auf diesem Feld ein großes Durcheinander herrscht.
Seite 196 (312): Was ironischerweise fehlt, ist eine spezifische, universell akzeptierte Definition von Legasthenie.
British Psychological Society: „Legasthenie liegt vor, wenn sich das genaue und flüssige Lesen und/oder Buchstabieren von Wörtern sehr lückenhaft oder unter großen Schwierigkeiten entwickelt.“
International Dyslexia Association: „Legasthenie ist eine spezifische Lernschwäche neurologischen Ursprungs. Sie ist gekennzeichnet durch Probleme bei der genauen und/oder flüssigen Worterkennung sowie durch fehlerhaftes Buchstabieren und Entziffern. Diese Probleme beruhen typischerweise auf einem Defizit in der phonologischen Sprachkomponente, das häufig mit anderen kognitiven Fähigkeiten kontrastiert und trotz einer effektiven Unterweisung im Unterricht auftritt. Sekundäre Folgen sind mögicherweise Schwierigkeiten beim Verstehen von Texten und eine geringere Leseerfahrung, was die Erweiterung von Wortschatz und Hintergrundwissen behindern kann.“
Seite 196: … dass das Gehirn aus der Perspektive der menschlichen Evolution nie darauf ausgelegt war zu lesen. Wie wir gesehen haben, gibt es weder Gene noch biologische Strukturen, die speziell dem Lesen dienen. Um lesen zu können, muss vielmehr jedes Gehirn lernen, neue Schaltkreise durch die Verknüpfung älterer Regionen zu bilden, die ursprünglich für andere Dinge, wie das Erkennen von Objekten und das Abrufen ihrer Bezeichnungen, angelegt und genetisch programmiert worden waren. Legasthenie kann nichts so Simples sein wie ein Fehler im „Lesezentrum“ des Gehirns, weil so etwas gar nicht existiert.
Seite 253 - Mein Lieblingszitat zum Schluss: Der Aufbau des Gehirns machte Lesen möglich, und Lesen wiederum verändert das Gehirn nach wie vor auf vielfältige, entscheidende Weise.