Norbert Kruse/Anke Reichardt, Herausgeber - Wie viel Rechtschreibung brauchen Grundschulkinder? Positionen und Perspektiven zum Rechtschreibunterricht in der Grundschule – Erich Schmidt Verlag – 2016 – ISBN 978 3 503 16537 7
Praktiker wie ich gehören bestimmt nicht zur Zielgruppe dieses Bandes, in dem sich „acht Beiträger und Beiträgerinnen“ (sic) in drei Schreibrunden mit dem Thema befassen. Für Praktiker ist es eine schwere Kost. Ich musste manchmal im Fremdwörterbuch nachschlagen, und oft erschien es mir, als wollten die Autoren sich gegenseitig mit Fachchinesisch und komplizierten Formulierungen übertrumpfen. Beispiel (Seite 172, Birgit Mesch: „Es geht um die qualitative Beschreibung und theoretische Modellierung von Schrift, der die quantitativ-statistische nachgeordnet ist – zumal wenn das Modell die Grundlage und den Referenzrahmen für die Modellierung orthografischer Kompetenzen liefern soll. Es geht darum, schriftsprachliche Einheiten – gleich welcher Ebene – in paradigmatische und syntagmatische Relation zueinander sowie in Relation zu Einheiten höher und tiefer liegender Ebenen zu setzen.“ Selbige Autorin trumpft auf Seite 110 mit dem Satz auf: „Er (der systematische Zugang zur Schriftsprache) zielt darauf ab, sie (die Kinder) in einem Minimum an Zeit ein Maximum an sprachlichen Strukturen entdecken zu lassen.“ Da verlieren die verkopften wissenschaftlichen Formulierungen Ihren Glanz, und ich denke mir, dass da ein gerüttelt Maß an geistiger Schaumschlägerei dabei ist. Minimax geht nicht. Betriebswirte lernen das im Studium. Und auch bei der folgenden Stelle reibe ich mir als Betriebswirtschaftler verwundert die Augen (Beate Leßmann, Seite 31): "Jedes einzelne Kind benötigt so viel Rechtscheibung, wie es bewältigen kann." Tolle Zielsetzung, denke ich mir da.
Aufmerksam auf das Buch geworden bin ich durch eine Diskussion im Forum Legasthenie und Dyskalkulie bei Facebook. Ein Hinweis auf den Beitrag von Carl Ludwig Naumann hat mich neugierig gemacht. Es ging um die Frage, ob Silben für die Rechtschreibung förderlich oder schädlich sind. Und tatsächlich, dazu bietet der Band viele Informationen. Silbe oder Morphem, das ist die Frage. Die Wissenschaftler sind sich nicht einig. Und das verwundert mich immer, wenn es heißt, dass bei einem bestimmten Konzept die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse berücksichtigt sind, Oft sind das die Fehler von gestern. Manche Autoren schwören auf die Silben, andere auf Morpheme, andere halten Mischsysteme für sinnvoll, was meiner in der Praxis gereiften Auffassung entspricht. Beim Lesenlernen ist, wegen des Leseflusses, die Silbe wichtig. Bei der Rechtschreibung braucht man auch den Wortstamm. Und da empfehle ich z.B. die lehrreichen Schriften von Dorothea und Günther Thomé sowie die von Sabine Omarow.
Der erwähnte Carl Ludwig Naumann schreibt auf Seite 69: „Ein Verfügen über die basalen Beziehungen zwischen Phonemen und Graphemen schafft eine hohe Sicherheit für richtiges Schreiben, nämlich 90 Prozent.“ Das könnte ein Satz aus der Werbung sein. Die Aussage stimmt und ist zugleich falsch. Wenn ein Schüler in einem Diktat mit 100 Wörter alle basalen Phonem-Graphem-Beziehungen richtig schreibt, und alle anderen falsch, dann hat er nicht 90 Prozent der Wörter richtig, sondern eine sehr kleine, denn die Anzahl an Wörtern, die lautgetreu geschrieben werden, ist relativ klein.
Generell wird die Anlauttabelle als unverzichtbar hingestellt, weil nur so die Schüler angeblich begreifen, wofür man Schriftsprache braucht. Das wird heute als notwendig angesehen, denn nur wenn man wisse, wozu etwas gut ist, sei man auch motiviert. Ich sehe das völlig anders. Susanne Rieger entwickelt die Anlauttabelle sogar zum Silbenbogen weiter, einem Monstrum, das alles andere als selbsterklärend ist.
Was generell in diesem Band fehlt, ist die Berücksichtigung der Handschrift. Dieses Wort kommt auch nur einmal im Text vor, und zwar bei Carl Ludwig Naumann auf Seite 209: „Man vergleiche miteinander etwa die Lesbarkeit der Handschrift und die Korrektheit von Wörtern ...“. Bei meinen Schülern ist die Handschrift oft sehr schlecht und manchmal kaum lesbar. Warum? Weil sie die zu wenig üben, und sich beim Schreiben so anstrengen, dass sie die im Buch beschriebenen Analysen, Vergleiche und Ableitungen zum Erkennen der passenden Rechtschreibstrategien gar nicht durchführen (können). Die Anlauttabelle erzwingt zudem zuerst zur Druckschrift und macht die Schreibschrift damit zweitrangig. Ein schwerer Fehler! Darauf aufmerksam macht z.B. Schulze-Brüning/Clauss, "Wer nicht schreibt bleibt dumm".
Beachtlich sind die verzweifelten Versuche, Logik in die Rechtschreibung zu bringen, damit sich die Schüler die Rechtschreibung durch Ableitung und Vergleichen erschließen können. Dazu ein schönes Zitat von Böhm/Mehlem auf Seite 120: „Der Gegensatz zwischen der vermeintlichen Willkür orthografischer Regelungen und dem Wunsch nach ihrer leichteren Lehr- und Lernbarkeit durchzieht die didaktische Literatur seit der Reformation.“ Wie wahr! Aber warum „vermeintlich“? man stolpert immer über Ausnahmen und muss Merkwörter ernennen. Einen systematischer Wortschatzaufbau empfehlen manche Autoren, der muss aber gepaart sein, mit der Rechtschreibung der Wörter, die der Schüler in seinen freien Texten schreibt. M.E. gelingt das in der Praxis nicht oft, denn man kann nicht stringent vom Einfachen zum Schwierigen bzw. zu den Ausnahmen vorgehen. Von der Beachtung der Ranschburgschen Hemmung kann da keine Rede sein. Zudem kommt mir die Auffassung, dass jede Lehrkraft die Schüler ganz individuell behandeln muss etwas visionär vor, zumindest bei der derzeitigen Personalausstattung der Grundschulen. Gefordert wird außerdem, dass die Lehrperson die deutsche Sprache in allen Facetten ihres Aufbaus, der Rechtschreibung, Zeichensetzung und der Grammatik beherrschen muss. Ich weiß nicht, ob das der Realität entspricht.
Das Buch gibt interessante Einblicke in die Gestaltung eines modernen Rechtschreibunterrichts. Man erfährt etwas über Wörterkliniken, KLassenwörter, Klassentagebuch, Rechtschreibgespräche, Schreibkonferenzen, Forscheraufträge u.v.a.m. Jetzt weiß ich auch, wo das schreckliche Wort von der Erwachsenenschreibung (Beate Leßmann, Seite 139) herkommt, und der Euphemismus "Privatschreibung".