Gerald Lembke, Ingo Leipner – Die Lüge der Digitalen Bildung – Warum unsere Kinder das Lernen verlernen – Redline Verlag- 4. Auflage 2020 - ISBN 978-3-86881-697-6
Den Teil 1 „Kleinkinder, Kindergarten und Grundschule“ könnte ich mir gut als Pflichtlektüre für Eltern vorstellen. Unter dem, gleich im Vorwort schon kurz erläuterten Motto „Eine Kindheit ohne Computer ist der beste Start ins digitale Zeitalter“, wird überzeugend dargestellt, welche Nachteile es für das Kind bringt, wenn man es zu früh den digitalen Medien überlässt.
Eine schöne Erklärung für meine Beobachtung, dass meine Lesekinder einen viel zu geringen Wortschatz haben, findet sich auf Seite 19: „Die destruktive Wirkung von Background Media – Kleinkinder werden einem Fernsehprogramm kaum aufmerksam folgen, wenn sie es nicht verstehen. Aber die Eltern sind damit beschäftigt. Der Fernseher mag für das Kind nur ein Hintergrund-Medium sein, doch für die Eltern steht er im Vordergrund. Der Fernseher lenkt die Eltern ab – und verringert die Interaktion zwischen Eltern und Kind. Das Wachstum seines Wortschatzes hängt aber direkt von der ´talk-time´ mit den Eltern ab bzw. von der Zeit, die Vater oder Mutter mit ihm sprechen. Wird in einem Haushalt sehr viel ferngesehen, kann sich das negativ auf die Sprachentwicklung des Kindes auswirken, einfach weil die Eltern wahrscheinlich zu wenig mit ihrem Kind sprechen.“
Dieses Beispiel – eines von vielen in diesem Buch – soll nur zeigen, wie anschaulich das Thema behandelt wird. Und es wird gnadenlos mit häufig gehörten Allgemeinplätzen aufgeräumt, z.B., dass das Fernsehen den Kindern beim Einschlafen hilft. Sehr gut wird auch an Beispielen erklärt, wie moderne Medien Kinder auf scheinbar harmlose Weise binden und manipulieren. Grundsätzlich heißt es im Buch zu Medienkonsum durch Kleinkinder: „Vor einem Bildschirm verharrt das Kind in relativer Ruhe, sein Bewegungsdrang wird gedämpft und wesentliche motorische Erfahrungen bleiben aus.“ Und: „Was auf dem Bildschirm erscheint, sei niemals die Sache selbst, sondern nur ein Surrogat der Realität.“ Und auf Seite 35: „Je länger Kinder vor digitalen Spielzeugen sitzen, desto weniger erleben sie die reale Welt. Mit allen negativen Konsequenzen für ihre kognitive Entwicklung! Was sie scheinbar fördert (Anm. Siegbert Rudolph: gemeint mit scheinbar ist die Werbung für mediale Produkte für Kinder), untergräbt ihre Fähigkeit, die Welt zu entdecken. Digitalität statt Realität ...“ Und immer wieder kommt das Beispiel vom Hausbau, das im Keller mit dem Fundament beginnen sollte, was bei der Mediennutzung oft nicht beachtet wird.
Am Ende jedes Kapitels kommt das Gehirn zu Wort, was eine gelungene, kurze Zusammenfassung des Kapitels ist.
Auch ein roter Faden im Buch: „Kinder erleben in unserer Welt genug Digitalität. Da ist es kontraproduktiv, den Umgang mit Computern in Kindergarten und Schule zu fördern.“
Besonders gefällt mir, wie sich die Autoren mit der frühen Medienkompetenz auseinandersetzen, die allerorts gefordert wird. Zum Beispiel sagen die Autoren, statt viel Geld für fragwürdige Digitaltechnik auszugeben, solle man doch besser in dringend benötigte Köpfe investieren. Und auch das Beispiel des Hauses, das von unten nach oben gebaut wird, kann hier wieder bemüht werden.
Auch E-Learning stellen die Autoren besonders im zweiten Teil des Buches in Frage. Die Entwicklung der Empathie leide durch häufige Nutzung von Bildschirmmedien bei Kindern heißt es dazu. Als jemand der seine Lese- und Rechtschreibförderung weitgehend mit dem Computer betreibt, hat mich das natürlich besonders interessiert. Es wird darauf hingewiesen, dass für E-Learning vor allem damit geworben wird, dass es Feedback und Wertschätzung durch das Programm gibt. „Beides gewinnt aber erst seinen wahren Wert, wenn echte Menschen ein ernst gemeintes Lob aussprechen oder freundlich Kritik üben.“ Die intrinsische Motivation werde beim E-Learning gestört, weil dabei das Verhalten als kontrolliert und abhängig von einer Belohnung erlebt wird. Und da fühle ich mich dann mit meinem System bestätigt, denn ich entwickle nicht E-Learning, sondern Hilfen für Eltern und Trainer, mit Kindern gezielt üben zu können. Die Kinder sollen bei meinen Übungen – außer bei Vertiefungsübungen zur Rechtschreibung - nicht allein vor dem Computer sitzen.
Und dann bin ich sehr verwundert über einen Beitrag zur Motivationsforschung. Da wird doch glatt Douglas McGregor zitiert. Von dem habe ich Bücher als Student gelesen, und das ist lange her. Scheint doch nicht alles überholt zu sein, was ich gelernt habe.
Ein schöner Satz von Seite 117: „Wer dicke Bretter bohren kann, ist beim Lernen erfolgreich!
Und dann kommt noch ein Zitat, das mir besonders auffällt, weil es von meinem Ex-Kollegen aus DATEV-Zeiten kommt, der in seiner Eigenschaft als Präsident des Bitkom eine „digitale Agenda für unsere Schulen“ gefordert hat. Ich kann dazu nur sagen, dass man bei Organisationen wie Bitkom nicht in pädagogischen, sondern in Markterschließungs- und Absatzkategorien denkt und Kinder als zukünftige Nutzer sieht. Gefährlich ist das nur, wenn Bildungspolitiker auf solche Thesen hereinfallen, was leider häufig der Fall ist.
Gefreut hat mich auch, dass Josef Kraus zitiert wird, der die Entwicklung ähnlich sieht. Ein Werk von ihm (Wie man eine Bildungsnation an die Wand fährt) habe ich auch schon rezensiert.
Immer wieder wird auch darauf hingewiesen, dass der Lehrer den Lernerfolg bestimmt. Dazu wird John Hattie zitiert.
Ein Gastbeitrag von Prof. Dr. Gertraud Teuchert-Noodt „Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie das Gehirn“ rundet das lesenswerte Buch ab.