Michael Winterhoff – Warum unsere Kinder Tyrannen werden – 16. Auflage - Goldmann - 2010
Das Buch wurde mir von Lehrkräften empfohlen. Ich fand es spannend und informativ. Die Fallbeispiele zeigen dramatisch die Situation auf, mit der wir es heute mit vielen Kindern zu tun haben.
Gleich zu Anfang (Seite 13) kommt der Autor auf den Punkt: „Bei einem großen Teil der Kinder und Jugendlichen, die in allen Lebensbereichen Probleme verursachen, haben wir es nach meinem in langjähriger Beobachtung entwickelten Modell mit Menschen zu tun, deren psychischer Reifegrad in etwa auf dem Niveau von maximal Dreijährigen stagniert.“ Etwas später heißt es: „Kinder, die aufgrund fehlender psychischer Voraussetzungen nicht in der Lage sind, falsches von richtigem Verhalten zu unterscheiden, entwickeln sich eben zu jenen Tyrannen und Monstern, von denen wir im Alltag immer häufiger mit einer großen Fassungslosigkeit stehen.“
Der Autor stellt fest, dass Kindern immer öfter die Rolle eines Partners zugewiesen wird. Persönliche Anmerkung: Wem das übertrieben vorkommt, der braucht nur in den LehrplanPLUS für die Grundschule in Bayern zu schauen. Dort heißt es z.B. „Kinder haben – unabhängig von ihrem Alter – ein Recht auf Partizipation. ... Partizipation bedeutet die Beteiligung an Entscheidungen, die das eigene Leben und das der Gemeinschaft betreffen, und damit Selbst- und Mitbestimmung, Eigen- und Mitverantwortung und konstruktive Konfliktlösung. Basierend auf dem Bild vom Kind als aktivem Mitgestalter seiner Bildung sind Partizipation und Ko-Konstruktion auf Dialog, Kooperation, Aushandlung und Verständigung gerichtet (Seite 7, LehrplanPLUS). Diese Stelle (und ähnliche) hatte ich mir schon angestrichen, lange bevor ich das Buch von Winterhoff las, denn sie kamen mir schon damals abgehoben und weltfremd vor. Winterhoff sagt: "Kinder werden mit der Rolle als Partner aber restlos überfordert, denn Persönlichkeitsentwicklung setzt erst mit dem achten oder neunten Lebensjahr ein. Es wird versäumt, und zwar von Eltern, Erziehern und Lehrern, den Kindern Grenzen aufzuzeigen."
Es handelt sich nicht um eine theoretische Abhandlung. Viele Beispiele aus der Praxis des Autors veranschaulichen seine Thesen. Der Autor nennt drei Stufen der Beziehungsstörung, wobei die erste die bereits erwähnte "Partnerschafltlichkeit" ist. Die gibt es in vielen Familien. Problematisch ist, dass in Kindergärten und Schulen nicht gegengesteuert wird, weil dort die gleichen modernen Konzepte greifen. Die zweite Stufe der Beziehungsstörung ist die der „Projektion“. Das Kind wird zur Befriedigung der eigenen Bedürfnisse benötigt. Seite 132: „Eltern in der Projektion reagieren anders. Sie verstehen das Sozialverhalten und die schulischen Leistungen ihres Kindes als Messlatte dafür, ob sie selbst als gute oder als schlechte Eltern zu gelten haben. ... Der Erwachsene ist vom Kind abhängig, er definiert sein eigenes Selbstbewusstsein ausschließlich über das Verhalten des Kindes.“ In diesem Zusammenhang wird dann auch der Wunsch nach weniger Leistungsdruck und niedrigeren Anforderungen gesellschaftlicher Konsens. Als Beispiel fiel mir sofort die Abschaffung des Diktats ein. Besonders nachdenklich macht die dritte Stufe der Beziehungsstörung, die „Symbiose“, also die Verschmelzung der Psyche der Eltern mit der ihres Kindes. Die Kinder dieser Eltern machen in den Augen der Eltern auch bei schwerwiegendem Fehlverhalten grundsätzlich nichts „extra“. Der Autor schreibt (Seite 174 f) „Im Rahmen der Symbiose kommt es also zu einer völlig falschen Einschätzung von Kindern. Bei Problemen wird nicht abgegrenzt als Erwachsener reagiert, indem dem Kind Regeln, Strukturen und Verhaltensweisen aufgezeigt, abverlangt und wieder trainiert werden, damit die zugehörigen psychischen Funktionen sich bilden können. Es wird vielmehr darauf hinauslaufen, dass das Kind als krank empfunden wird, so wie ein nicht funktionstüchtiger Körperteil. So erklärt sich die auffällige Häufung von Krankheiten mit denen Schulprobleme von Kindern erklärt werden sollen. Dyskalkulie, Legasthenie oder ADHS sind absolute Chartstürmer in den Hitlisten der Kinderkranheiten.“
Was mich besonders nachdenklich gemacht hat: (Seite 153) „Das Kind definiert zunächst auch andere Menschen über die Nervenzelle "Gegenstand". Das ändert sich erst in dem Moment, in dem die Menschen in der Umgebung sich dem Kind gegenüber als abgegrenzt präsentieren, ihm Widerstand entgegensetzen, wenn es sich in seinem kindlichen Narzissmus durchzusetzen versucht. Damit erklärt der Autor, das oft unmenschliche Vorgehen von Tätern. Sie sind auf der Stufe "Gegenstand" stehen geblieben. Sie quälen aufgrund ihres psychischen Empfindens nicht Menschen, sondern Gegenstände. Ich denke, da fallen jedem zahlreiche Beispiele ein.
Zum Schluss fordert de Autor ein Überdenken der Kindergarten- und Grundschulkonzepte, was umso wichtiger wird, je mehr Defizite in den Familien entstehen.